RaMuesWeltHistory #

 
Hallo Bloggs.
 
Es gab Zeiten, da war die Welt schlicht und einfach. Es ging ein eiserner Vorhang durch Europa, da waren wir im Westen die Guten und die auf der anderen Seiten die weniger Guten. Nur wenige Kilometer trennte die Leute, aber es waren doch Welten. Hier der unglaubliche Überfluss in vielen Bereichen, dort Mangelware und Einengung. Zur Abschottung gehört auch, dass Reisen nur in genehme Länder erlaubt sind und das Reisende aus der "nichtsozialistischen Wirtschaftszone" kritisch beäugt und manchmal überhaupt nicht willkommen sind. So erscheint mir unsere Reise nach Sofia im Jahre 1983 im Rückblick immer noch wie ein kleines Wunder, wir waren jung, naiv und mit etwas Glück ausgestattet.
Leider ist der Geschichtsunterricht in deutschen Schulen anscheinend nicht mehr wichtig, denn anders ist das Unwissen über die deutsche Vergangenheit nicht zu erklären. Achselzucken und "das ist doch schon lange her" ist die Antwort, Diktatur ein Fremdwort. Oder höchstens noch ein Schlagwort bei "Querdenkern" und anderen Leuten, die entweder richtig vergesslich sind oder nie in einer Diktatur gelebt haben. Wir auf jeden Fall, sind für zwei Tage durch den eisernen Vorhang geschlüpft, mit einem offiziellen Visum, einem zugewiesenem Hotel und ganz wichtig, ausgestattet mit Tickets für das Spiel. Es war eine Reise in eine andere Region, ein anderes System, ein anderes Denken. Es war 1983.
 
Der VfB Stuttgart hatte sich für den UEFA-Cup qualifiziert und in der ersten Runde Levski Sofia zugelost bekommen. Typisch VfB, dachten die meisten. Denn Gegner im damaligen "Ostblock" waren keine Seltenheit, die attraktiven Gegner bekamen scheinbar immer die anderen. Das Heimspiel in Stuttgart wurde vor nur 25.000 mit 1:1 "versemmelt" und in Sofia musste man gewinnen oder zumindest 2:2 spielen.
 
Die Vorbereitungen für eine solche Reise in einen Mitgliedsstaat des damaligen Militärbündnisses Warschauer Pakt waren nicht ohne. Wir mussten ein Visum im bulgarischen Konsulat beantragen, Geld zwangsweise umtauschen, bekamen ein staatliches Hotel zugewiesen und mussten dann bei der Einreise zugleich die Rückfahrtickets vorweisen. Man sieht, wir reisten mit dem Zug.
 
Manchen Lesern ist das Transalpinoticket der Bahn noch ein Begriff und es gab für die "Balkanroute" einen speziellen Fahrplan.
 
 
Unsere Fahrten sind gelb eingerahmt. Start war im 17.47 in Stuttgart. Umsteigen in München. Dann in Ljubljana wieder den Zug wechseln um letztlich nach insgesamt rund 29 Stunden in Sofia anzukommen. Mit jeder Stunde in Richtung Osten wurden die Fahrgäste abenteuerlicher, jeder längere Stopp zum Auffüllen der Wasserflaschen genutzt. Bier war schon lange alle, spätestens ab der Grenze in Jugoslawien nicht mehr erlaubt. In den Zügen gab es keine Klimaanlage, die Fenster waren eigentlich immer einen Spalt geöffnet. Vor knapp vierzig Jahren war ein solcher Anblick unglaublich fremd, siehe unten.
 
 
Erstaunlich pünktlich waren wir dann da. In Sofia, der Hauptstadt Bulgariens. Den Bahnhof habe ich nicht mehr so richtig in Erinnerung, lediglich der viele Marmor blieb haften. Auch der nächste Tag brachte positive Einblicke, zumindest die jeweilige Hauptstädte der sozialistischen Länder waren richtig vorzeigbar, dagegen war West-Berlin ein echtes "Loch". Trotzdem merkte man, irgendwas ist anders. Beim Einchecken mussten wir unsere Pässe abgeben, danach ein Büro für den Zwangsumtausch von Devisten aufsuchen. Auch mussten wir bei der staatlichen Reisegesellschaft unsere Rückfahrttickets bestätigen lassen und uns wurde eine Sitzplatzreservierung "aufgeschwätzt". Wir erhielten keine Quittung, zumindest nicht für die Rückreise.
 
 
Der Rest des Tages war ausgefüllt mit dem Erkunden der Stadt. Es war wie üblich, die Hauptstraßen waren prächtig und sauber, der Rest dagegen eher schmuddelig. Für die Rückreise deckten wir uns ein. Wir hatten ja Geld und waren auch unter anderem in einer Metzgerei. Da lagen die Salamiringe lieblos in einer fettigen Blechwanne, welche schon Schimmelbestände vorweisen konnte. Wir kauften nur geräucherte Wurstwaren und irgendeinen Fusel, das Brot ergatterten wir erst kurz vor der Rückfahrt. Überhaupt waren wir fit, kaum Alkohol und immer wachsam, so die Devise. Schließlich waren wir ohne unsere Pässe einer bestimmten Willkür ausgeliefert. Bilder von der Stadt gibt es keine, der klobige Foto erregte nur Aufmerksamkeit. Es kam der Abend und somit das Spiel.
 
 
Gespielt wurde im Nationalstadion. Es war mit 60.000 Zuschauern fast ausverkauft und ein typischer Bau der Zeit und der Umstände. Eine Haupttribüne, eine Leichtathletikbahn mit  Sitz- und Stehplätze im Freien. Wir waren nicht in einem Auswärtsblock, sondern inmitten der Leute. Überhaupt haben wir keine sogenannte Heimkurve ausgemacht, irgendwo waren dann die rund hundert VfB-Fans zu sehen, welche offiziell über den VfB mirgereist waren. Wir waren in diesem Fall echte Selbstfahrer.
Das Match endete mit einer Pleite und dem Ausscheiden der Roten. Trotz zahlreicher Torchancen verlor man in den Schlussminuten und wir waren richtig ruhig. Nur nicht auffallen.
 
 
Das Tor fiel in der 86. Minute und somit war die Europokalsaison schon gelaufen. 0:1. In der ersten Runde raus, in Bulgarien. Es war natürlich ein große Enttäuschung aber wir waren froh, ungeschoren wieder ins Hotel gekommen zu sein. Den frustrierenden Abend verbrachten wir dann im Hotelrestaurant, wo wir mit einer Mischung aus bulgarischem Restgeld und D-Mark um uns warfen, um noch irgendwas zu essen zu bekommen. Vom Zimmer bleiben nur noch die dicken, dunkle, schwere Vorhänge in Erinnerung. Warum auch immer. Vielleicht war ein Spion dahinter? Beim Auschecken bekamen wir unsere Pässe wieder.
Die Rückfahrt bleibt mir dagegen sehr gut im Gedächtnis haften. Zunächst waren unsere Sitzplatzreservierungen lächerlich, diese Papierfetzen erwiesen sich als nutzlos. Ich vermute, das Geld wurde "privat kassiert". So verzogen wir uns in den Gepäckwagen und bekamen prompt Besuch. Ein vornehm gekleideter Herr wollte unsere Pässe sehen und war für mehrere Stunden unser Begleiter. Dann verabschiedete er sich höflich und "Toni" stieg zu. Unterwegs halfen wir dem Gepäckschaffner, das gibt es heute längst nicht mehr, beim Umladen. Dadurch konnten wir in unserem Gepäckwagen bleiben, erst in München bezogen wir dann wieder "richtige" Wägen. Also "Toni" tauften wir "Toni", weil er sich so vorstellte. Er war unser Schatten quer durch Jugoslawien und kam wohl aus dem sozialistischen Bruderstaat Angola oder Mosambik. Seltsamerweise hatte er nichts gegen Bilder. Kurz vor der Grenze nach Österreich machte auch er die Fliege, er hatte seinen Auftrag erfüllt.
 
 
Diese Reise werde ich wohl nie vergessen. Trotz meiner Bundeswehrzeit an der innerdeutschen Grenze hatte ich keine Probleme mit dem Visum. Jahre später beim geplanten Trip nach Dresden im Jahre 1989 wohl. Da wurde mir ein halbes Jahr vor dem Mauerfall noch die Einreise seitens der DDR verweigert.
 
 
Anbei noch einen Ausschnitt aus der Stuttgarter Bildzeitung nach dem Spiel. Man beachte die übersetzten Zeitungsnamen.
 
Anhang: Dieses frühe Aus war im Rückblick die größte Pleite der Saison. Der VfB Stuttgart wurde dann deutscher Meister und erreichte im DFB-Pokal das Viertelfinale. Aber Levski Sofia blieb der Horrorgegner. Schon 1984/85 traf man wieder auf die Bulgaren, wieder in der ersten Runde, wieder kam das Aus. Zuhause 2:2 und in Sofia 1:1. Diesmal aber im Europapokal der Landesmeister, diesmal ohne uns.
Die Volksrepublik Jugoslawien gibt es schon lange nicht mehr. Es war damals ein blockfreier Staat, aber wohl eher mehr ein zusammengepresster Staatenbund. Jugoslawien tendierte mehr Richtung Osten, orientierte sich also mehr am Sozialismus als an der Demokratie. 1991 begann der Zerfall, blutige Kämpfe markierten das Ende und deren Auswirkungen spürt man bis heute. Siehe die entstandenen Einzelstaaten.
Auch der sogenannte "eiserne Vorhang" ist Geschichte. Die Erinnerung verblast und unser heutiges, freies Leben stellen wir nicht mehr in Frage. Es ist selbstverständlich geworden, innerhalb Europas ohne Passkontrollen zu reisen, der Zwangsumtausch ein uraltes Relikt. Leider führt das Vergessen in die falsche Richtung. Heute stellen wir alles in Frage, endlose Diskussionen manchmal sind die Folge. Ich jedenfalls weiß meine Freiheit zu schätzen, seit der Fahrt nach Sofia noch mehr. Seit der Begleitung durch die "Tonis" dieser Welt, seit den Zeiten der Überwachung, seit dem Stacheldraht, der Minensperren und dem verkappten Schießbefehl an der Grenze. An der Grenze, welche die damalige Welt so einfach machte. Wir die Guten ...
 
Keep the faith.
RaMü
 
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